

Depression verstehen und überwinden – ohne Antidepressiva?
Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen unserer Zeit – und doch gibt es kaum ein Krankheitsbild, das so häufig missverstanden wird. Lange dominierte das Bild von der „chemischen Störung im Gehirn“: Ein Serotoninmangel hier, ein Antidepressivum dort – und alles wird wieder gut. Doch dieses Verständnis ist überholt.
Im Healthwise Podcast erklärt Prof. Dr. Reinhard Maas, warum er diesen biomedizinischen Ansatz für nicht tragfähig hält. Seine Forschung zeigt: Es sind keine messbaren Biomarker, kein Gen-Defekt und kein Serotoninmangel verantwortlich. Was bleibt, ist ein psychosoziales Krankheitsverständnis – und damit auch die Chance auf echte Heilung durch Selbstverantwortung und Therapie.
Die Ursachen liegen oft tiefer – und früher
Ein Schlüsselmoment in der Therapie ist laut Prof. Maas das Verständnis der eigenen Geschichte: Warum bin ich krank geworden? Warum bin ich nicht von allein wieder gesund? Dabei geht es nicht nur um aktuelle Belastungen, sondern auch um frühkindliche Prägungen, die unser Selbstbild, unsere Beziehungen und unsere Resilienz formen.
Nicht selten zeigt sich: Ein negativer Glaubenssatz aus der Kindheit („Ich bin nichts wert“, „Ich muss leisten, um geliebt zu werden“) begleitet Menschen über Jahrzehnte – bis eine Krise wie der Jobverlust das fragile Gleichgewicht kippen lässt. Genau hier setzt die psychotherapeutische Arbeit an.
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Medikamente wirken kaum besser als Placebos
Ein überraschender Befund aus der Praxis: Menschen mit Depressionen sind häufig aggressionsgehemmt – nicht im Sinne von Gewalt, sondern im Sinne einer fehlenden Fähigkeit, eigene Bedürfnisse klar zu vertreten. Wer ständig zurücksteckt, übergeht sich selbst – und verliert langfristig die Verbindung zu den eigenen Gefühlen und Grenzen.
„Konstruktive Aggression“ bedeutet: Nein sagen können. Für sich einstehen. Wut zulassen, ohne destruktiv zu sein. In Studien von Prof. Maas zeigte sich: Je besser Patient:innen lernen, diese Form der Aggression zuzulassen, desto nachhaltiger ist der Therapieerfolg – sogar über ein halbes Jahr hinaus.
Therapie wirkt – wenn sie zur richtigen Zeit kommt
Eine stationäre Therapie ist dann sinnvoll, wenn das Leben nicht mehr funktioniert: keine Tagesstruktur, Suizidgedanken, völlige Erschöpfung. Für leichtere Formen empfiehlt Prof. Maas ambulante Psychotherapie. Wichtig sei nicht das Setting, sondern die Motivation zur Veränderung – und der Wunsch, sich selbst besser zu verstehen.
Fazit: Depression ist verstehbar – und heilbar
Prof. Maas entmystifiziert die Depression – nicht um sie kleinzureden, sondern um den Weg zur Heilung sichtbar zu machen. Es ist ein Weg, der Mut verlangt. Aber auch ein Weg, der Hoffnung macht. Denn wenn wir verstehen, warum wir leiden, können wir auch wieder lernen zu leben.
Take-Aways
- Depression ist keine Serotoninstörung. Biomedizinische Erklärungsansätze gelten als widerlegt.
- Psychotherapie wirkt nachhaltig, vor allem bei hoher Selbstverantwortung und einem individuellen Krankheitsverständnis.
- Konstruktive Aggression – also gesunde Abgrenzung und Selbstbehauptung – ist ein unterschätzter Heilungsfaktor.
- Antidepressiva haben eine begrenzte Wirkung, die primär auf dem Placeboeffekt basiert.
- Stationäre Therapie kann sinnvoll sein, wenn das Alltagsleben zusammenbricht – ambulante Hilfe aber oft früher und präventiv wirksam.
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Friedrich F. Neltings ist Unternehmer, klinischer Psychoneuroimmunologe und Autor des Buches „Die Strategie der Absichtslosigkeit“. Mit langjähriger Erfahrung an der Schnittstelle von Wirtschaft, Medizin und Psychologie verbindet er fundiertes Fachwissen mit einem tiefen Verständnis für die menschliche Gesundheit. In seinem Buch und im Gespräch mit Nils Behrens im Healthwise-Podcast zeigt er, warum absichtsloses Handeln kein Widerspruch zur persönlichen Weiterentwicklung ist, sondern vielmehr ein Weg zu mehr Energie, mentaler Stärke und langfristigem Wohlbefinden. Sein Ansatz lädt dazu ein, Kontrolle loszulassen und Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit, sondern als lebendige Balance zu verstehen.
[Nils Behrens] (0:01 - 0:49)
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[Prof. Dr. Reinhard Maß] (0:51 - 1:13)
Also wenn ich zum Beispiel nach Kindheit, nach Herkunftsfamilie frage, ist es für mich umso relevanter, je weiter zurück in der Kindheit das liegt. Dasselbe Ereignis hat für die ganze Persönlichkeitsentwicklung viel weitreichendere Bedeutung, wenn es mit 5 passiert ist, als wenn es mit 10 oder 15 passiert ist.
[Nils Behrens] (1:14 - 2:17)
Herzlich willkommen zu HEALTHWISE, dem Gesundheitspodcast präsentiert von Sunday Natural. Ich bin Dietz Behrens und in diesem Podcast erkunden wir gemeinsam, was es bedeutet gesund zu sein. Wir tauchen einem Team wie Medizin, Bewegung, Ernährung und emotionale Gesundheit.
Immer mit einem weisen Blick auf das, was uns wirklich gut tut. Depressionen gehören zu den häufigsten und zugleich am wenigsten verstandenen psychischen Erkrankungen unserer Zeit. Trotz zahlreicher Behandlungsansätze fühlen sich viele Betroffene hilflos.
Doch es gibt Wege, die über Medikamente hinausführen und zu nachhaltiger Heilung beitragen können. Professor Dr. Reinhard Maas ist leidender Psychologe im Zentrum für seelische Gesundheit Marienheide und ein erfahrener Psychotherapeut im Schwerpunkt auf Depressionen und emotionalen Störungen. Seit Jahren widmet er sich der Erforschung und Behandlung dieser Erkrankung und setzt dabei auf wissenschaftlich fundierte Ansätze jenseits von Antidepressiva.
In seinem aktuellen Buch zeigt er Wege auf, wie Betroffene durch Eigenverantwortung, Psychotherapie und tiefes Verständnis der Ursache ihrer Depressionen überwinden können. Herzlich willkommen, Prof. Dr. Reinhard Maas.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (2:17 - 2:19)
Ich grüße Sie, Herr Behrens. Guten Tag.
[Nils Behrens] (2:20 - 2:24)
Herr Professor, was haben Sie letzten Sonntag für Ihre eigene seelische Gesundheit getan?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (2:25 - 2:49)
Oh, gar nichts Besonderes. Also ich bin immer ganz froh, wenn ich ein freies Wochenende habe. So war das.
Ich bin glücklich, wenn ich lange ausschlafen kann. Wir hatten ein gutes Frühstück. Opulent, möchte ich sagen.
Und abends haben wir Freunde besucht und das war es auch schon. An solchen Wochenenden kann ich mich entspannen und erholen und das ist auch wichtig.
[Nils Behrens] (2:49 - 2:54)
Und ich glaube, Freunde zu besuchen ist ja zumindest generell für die mentale Gesundheit auf jeden Fall auch immer eine gute Idee, oder?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (2:55 - 2:56)
Ja, so ist es.
[Nils Behrens] (2:57 - 3:05)
Gut. Sie sind ja seit einigen Jahrzehnten in der psychologischen Forschung und Therapie tätig. Was hat Sie ursprünglich dazu bewegt, sich mit Depressionen zu beschäftigen?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (3:06 - 4:21)
Also ich hatte verschiedene Forschungsschwerpunkte im Laufe meiner Berufstätigkeit. Es fing an mit meiner Diplomarbeit. Da habe ich mich mit kognitiven Beeinträchtigungen bei Patienten vor und nach offenen Herzoperationen beschäftigt.
Später, das war mein Promotionsthema, habe ich eine bestimmte Therapieform zur Behandlung von Bronchialasthma untersucht. Biofeedback. Dann kam eine lange Zeit, in der ich mich mit Schizophrenie beschäftigt habe.
Verschiedene Aspekte von Schizophrenie. Neuropsychologische Beeinträchtigungen, die Psychopathologie der Schizophrenie. Die Depression wurde für mich ein Forschungsfeld in dem Maße, in dem ich mit diesen Patienten auch therapeutisch gearbeitet habe.
Das begann vor 20 Jahren, als ich eine neue Station aufgebaut habe. Eine psychotherapeutische Station im Rahmen einer Allgemeinpsychiatrie. Depression ist der größte Teil unserer Patienten, die an Depressionen leiden.
Dann war es für mich naheliegend, das irgendwann auch ins Zentrum meiner Forschungsinteressen zu rücken.
[Nils Behrens] (4:22 - 4:59)
Ja, und dann auch irgendwann ins Zentrum Ihres Buches. Da muss man wirklich sagen, als mir der Verlag diesen Titel genannt hat, fand ich das schon sehr vielversprechend. In der heutigen Schulmedizin ist man sehr schnell nach einem Quick-Fix unterwegs.
Eine irgendwie geartete Lösung, die häufig in Verbindung mit Medikamenten eingesetzt wird. Da bin ich als eher narkoturherkundlich geprägter Mensch natürlich immer froh, wenn es da auch Alternativen gibt. Was war die Motivation, sich mit dem Thema der Alternative zu beschäftigen, aber auch mit dem Anschluss für dieses Buch?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (5:00 - 6:04)
Ja, zur Frage, warum das Buch. Wir haben uns in den letzten Jahren auch wissenschaftlich mit Depressionen der Behandlung und den Behandlungserfolgen beschäftigt und eine Reihe von Fachpublikationen gehabt. Die haben dann zunehmend öffentliches Interesse gefunden, eine gewisse Medienpräsenz.
Wichtig dabei war eine Dokumentation, die vom WDR erstellt wurde, wo auch auf meiner Station gedreht wurde. Und darauf ist irgendwann auch der Thieme Verlag aufmerksam geworden. Die sind an mich herangetreten mit der Frage, ob ich eben auch so ein Ratgeberwerk schreiben würde.
Das war für mich neu. Ich habe bisher Fachliteratur geschrieben, aber auch sehr interessant, sehr attraktiv, weil ich das wirklich auch wichtig finde, diese Informationen in einer Weise niederzuschreiben, die auch für Laien ohne große Fachkenntnisse nachvollziehbar ist.
[Nils Behrens] (6:05 - 6:26)
Dann würde ich den anderen Teil der Frage vielleicht zurückstellen, weil ich finde rein definitorisch macht es vielleicht einmal Sinn, dass wir für unsere HörerInnen, damit wir sie vernünftig abholen, weil wir sind dann ja sozusagen schon bei der Behandlung, dass wir vielleicht einmal darüber sprechen, weil so beginnen sie ja auch ihr Buch, was ist eigentlich eine Depression? Vielleicht wollen wir da einfach mal mit der Definition beginnen und kommen dann auf den zweiten Teil meiner Frage vielleicht etwas später zurück.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (6:27 - 7:11)
Ja, man kann die Frage ganz unterschiedlich beantworten, je nachdem, welche Perspektive man einnimmt. Aber das Naheliegendste ist, Depressionen als eine Reihe von Symptomen zu definieren, sowas wie Interessenverlust, Antriebsminderung, Verlust an der Fähigkeit, Freude zu empfinden. Es gibt eine Reihe von weiteren Symptomen, wie Konzentrationsstörung, natürlich auch Suizidalität, Schlafprobleme, all das.
Wenn hinreichend viele dieser Symptome gegeben sind, hinreichend lange und schwer von der Ausprägung her, dann redet man von einer Depression.
[Nils Behrens] (7:12 - 7:30)
Es ist ja ganz interessant, das was ja viele vielleicht gar nicht so wissen, dass ja ungefähr vor 12, 14 Jahren in aller Munde immer das Thema Burnout war. Also das ist ja so ein Modethema vor 14 Jahren gewesen. Auch da reden wir ja eigentlich von einer Erschöpfungsdepression, oder?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (7:31 - 8:02)
Also wenn Sie mich fragen, ja. Ich glaube, dass Burnout nur eine Form von Depression ist, die jetzt speziell in Zusammenhang mit beruflichen Belastungen steht. Aber für mich macht es gar keinen Unterschied, ob ich jetzt Burnout sage oder Depression, aufgrund von beruflicher Belastung.
Es ist ein Modethema. Das haben wir immer mal wieder in der Forschung, in der Versorgung. Aber das Phänomen an sich ist nichts Neues, aus meiner Sicht.
[Nils Behrens] (8:02 - 8:09)
Sie kritisieren ja die vorherrschende biomedizinische Sichtweise auf Depressionen. Was sind da die Hauptargumente gegen diese Perspektive?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (8:12 - 10:58)
Für mich ist ausschlaggebend, dass es einfach keine hinreichenden, belastbaren wissenschaftlichen Ergebnisse gibt, die eine biologische Sichtweise nahelegen würden. Zum Beispiel die, glaube ich, sehr bekannte Serotoninhypothese, die sogenannte Serotoninhypothese. Das stammt ursprünglich, glaube ich, aus den 1960er Jahren.
Da wurde das formuliert als Vermutung, dass Depression die Folge eines Mangels an einem bestimmten Botenstoff im Gehirn sein könnte. Serotonin wurde da zuallererst genannt. Daraus wurde abgeleitet, erstmal logisch klingend, man kann Depression gut damit behandeln, indem man diesen Mangel behebt und Medikamente verabreicht, die also dafür sorgen, dass mehr Serotonin an den entsprechenden Stellen im Gehirn vorgehalten wird.
Das zum Beispiel, obwohl diese Theorie sich hartnäckig hält, oder diese Hypothese sich hartnäckig hält, ist schon lange widerlegt. Seit den 1980er Jahren wird die erheblich bezweifelt. Alle Übersichtsarbeiten zeigen, da ist gar nichts dran.
Also Depression ist nicht die Folge von Serotoninmangel. Das hat damit gar nichts zu tun. Es gibt andere Erklärungen, biologische Erklärungen, zum Beispiel Genetik.
In der Tat gibt es familiäre Häufungen von Depressionen. Das ist ja erstmal eine Beobachtung, die Anlass darüber gibt, über Gene nachzudenken. Jedoch haben wir ja inzwischen technisch die Möglichkeiten, die Gene direkt zu untersuchen.
Und es gibt tatsächlich genomweite Analysen, bei denen Tausende von Menschen mit Depressionen verglichen wollen, mit Tausenden von Gesunden. Man hat kein Gen gefunden, auch keine Gruppe von Genen, bei denen man sagen kann, das ist eine Voraussetzung dafür. Und das erhöht das Risiko für Depressionen.
Gibt es nicht. Es gibt viele Spekulationen immer mal wieder, auch immer mal wieder neu, die dann auch öffentliches Interesse finden. Aber es lässt sich dann in der Regel einfach nicht mehr bestätigen später.
Und die Replizierbarkeit, also dass jedes Forschungsergebnis von jedem in der Welt wiederholt werden muss, das ist nun mal ein wesentliches Prinzip der Erkenntnis. Und ich könnte das fortsetzen, also langer Rede kurzer Sinn, es gibt keine belastbaren Belege dafür, dass Depressionen irgendwie körperlich verursacht wird. Sei es Hirnstoffwechsel, sei es Gene, sei es Hirnstruktur.
Gibt es nicht.
[Nils Behrens] (10:58 - 11:05)
Okay, das heißt also, damit wäre dann ja quasi der Umkehrschluss, dass es psychosoziale Ursachen haben müsste.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (11:05 - 11:23)
Ja, das ist das, was dann übrig bleibt. Es gibt soziale Faktoren, die das Risiko für Depressionen erhöhen. Und es gibt psychologische Faktoren ebenso.
Und in der Regel ist es eine Kombination aus mehreren Faktoren, die zusammenkommen und dann zu einer Depression führen.
[Nils Behrens] (11:24 - 12:00)
Es ist ja ganz interessant, ich hatte jetzt nichts direkt mit Ihrem Buch zu tun, aber wenn ich jetzt mal so schaue, es gibt ja so ein paar Menschen, wie jetzt eben den Andrew Huberman, dem Neurowissenschaftler aus der Stanford University, der wiederum ja immer wieder darauf hinweist, dass man durch den Alkoholkonsum in der Zeit, wo man kein Alkohol konsumiert, eben halt auch häufig in so einen, ich sage jetzt mal, Dopamintief dann kommen kann, also eine Art von depressiver Verstümmung, sage ich mal so, das dann auch reingehen könnte.
Das wäre ja aber dann doch eigentlich eine eher biomedizinische Sichtweise, oder?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (12:00 - 13:02)
Das ist eine biomedizinische Sichtweise. Da gibt es ja viele. Die Frage ist, was ist da dran?
Nun, es gibt viele Gründe, warum jemand, der alkoholabhängig ist, ein Alkoholkrank ist, warum der dann auch depressiv wird. Das ist sogar der Normalfall, dass Patienten mit dieser Diagnose, mit diesem Problem eben auch unter Depressionen leiden und genau deswegen auch trinken und unter den Folgen des Trinkens wiederum so leiden, dass sie wieder depressiv werden. Das sind Teufelskreise.
Man braucht da überhaupt keine biologische, besondere Erklärung dafür. Also zum Beispiel mit Alkoholkonsum, also Abhängigkeit, werden so viele Schäden in der Lebensweise verursacht, Stellen, die verloren werden, Partnerschaften, die in die Brüche gehen, Führerschein, der verloren wird und, und, und. Das sind hinreichende Gründe dafür, dass so jemand dann auch depressiv wird.
[Nils Behrens] (13:03 - 13:05)
Okay, also auch wieder eigentlich eher psychosozial.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (13:06 - 13:35)
Ja, und das ist hinreichend. Man braucht keine weiteren Erklärungen dafür. Es ist halt immer wieder die Suche nach der biologischen Erklärung, die in vielerlei anderer Hinsicht durchaus sinnvoll ist.
Also wenn wir jetzt an Erkrankungen, wie Demenzen denken, Alzheimer, Demenz zum Beispiel, das sind klar biologisch verursachte Störungen, die sich auch psychisch auswirken. Aber auf Depressionen bezogen ergibt es einfach keinen Sinn.
[Nils Behrens] (13:36 - 13:51)
Verstehe. Dann kommen wir doch mal zu dem eigentlichen Punkt, der ja auch mit dem Titel Ihres Buches steht. Sie schreiben eben über den Einfluss der Pharmaindustrie auf die Psychiatrie.
Und können Sie vielleicht uns da etwas mehr über die Folgen dieser Entwicklung erzählen?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (13:52 - 15:56)
Die Folgen dieser Entwicklung, ja, das ist im Grunde, dass die Psychiatrie sich nicht mehr als eigenständiges, akademisches Fach frei entwickeln kann. Durch die Annäherung der akademischen Psychiatrie, also der Lehrstuhlinhaber zum Beispiel, an die Pharmakonzerne und durch die Einflussnahme der Pharmakonzerne, die natürlich ihren eigenen Profit im Auge haben und dafür immense Geldmittel einsetzen, ist es zu vielen Interessenkonflikten gekommen bei Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in der Psychiatrie. Zum Beispiel Lehrstuhlinhaber, zum Beispiel Vorstände von Fachverbänden, Herausgeber von Fachzeitschriften.
Überall findet man Interessenkonflikte. Die sind auch öffentlich bekannt. In mancher Hinsicht gibt es auch die Verpflichtung, seine eigenen Interessenkonflikte, also hier geht es vor allem ja um die finanziellen Beziehungen zu Pharmakonzernen, die offen zu legen.
Aber ein offengelegter Interessenkonflikt hört nicht auf zu wirken. Insofern hilft das auch nicht viel weiter. Es ist leider erlaubt, dass Leute, die darüber zum Beispiel entscheiden, etwa bei den Behandlungsleitlinien für Depressionen, die darüber entscheiden, ob Antidepressiva zum Beispiel empfohlen werden sollen oder nicht, dass die zugleich erhebliche Summen von Pharmakonzernen beziehen.
Das ist bekannt, das bezweifelt auch niemand. Die Personen geben das auch zum Teil selber an. Ja, ich stehe in einem Interessenkonflikt, aber es ist erlaubt.
Ich finde, das ist eine wirklich ganz schlechte, problematische Praxis. Aber so sieht es aus. Ein Interessenkonflikt ist deswegen problematisch, weil eine Entscheidung dann eben nicht mehr unbedingt im Interesse des Patientenwohls getroffen wird, sondern im Interesse eines Konzerns.
[Nils Behrens] (15:56 - 16:23)
Wenn Sie aber jetzt die Wirksamkeit von Antidepressiva infrage stellen, ist es dann so, dass Sie das, was ja sehr häufig mit vielen Medikamenten assoziiert wird, ist ja, dass die Symptome beseitigt werden, aber eigentlich die Wurzel nicht gepackt wird. Ist es so, dass Sie jetzt sagen würden, die Antidepressiva beseitigen die Symptome, oder sagen Sie, nein, das tun Sie nicht mal das, sondern es ist eigentlich ein Placeboeffekt?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (16:25 - 18:27)
Ja, das ist ja kein Widerspruch. Die typische Methode, um die Wirksamkeit von Medikamenten und eben auch von Antidepressiva nachzuweisen, ist die sogenannte Doppel-Blind-Studie. Um das mal ganz kurz zu sagen, das sieht so aus, dass die Depression gemessen wird mit bestimmten Standardverfahren.
Zu Beginn wird ein Medikament vergeben oder aber ein Placebo vergeben. Nach einer bestimmten Zeit, nach ein paar Wochen, wird die Depression in beiden Gruppen noch mal gemessen. Die Wirkung des Medikaments ist alles das, was am Rückgang der Depression über den Placeboeffekt hinausgeht.
Diese Differenz. Und die ist ohnehin sehr gering. Es ist bekannt, das steht auch in den Behandlungsleitlinien, die wie gesagt sehr pharmafreundlich formuliert sind, dass 75% der Wirkung eines Antidepressivums rein durch den Placeboeffekt oder andere unspezifische Effekte zu erklären ist.
75%, das ist ganz unstrittig. Und der Placeboeffekt, das wird oft so verstanden, Placeboeffekt bedeutet, es wirkt gar nicht. Das ist falsch.
Der Placeboeffekt ist ein ganz starker Effekt. Den haben wir überall. In vielen Bereichen auch da, wo man es gar nicht vermuten würde.
Und die Frage ist nur, gibt es darüber hinaus eine pharmakologische Wirkung von Antidepressiva? Die ist wie gesagt selbst von den Befürwortern und den Verfechtern von Antidepressiva unstrittig ganz gering. Das sind 20-25% nur über den Placeboeffekt hinaus.
Und es gibt Gründe anzunehmen, dass auch das noch eine Überschätzung ist. Antidepressiva haben nachgewiesenermaßen einen Placeboeffekt, der mäßig und kurzfristig ist, aber den gibt es.
[Nils Behrens] (18:28 - 18:55)
Wenn ich jetzt mal so eine Messung annehme, ich weiß, dass z.B. bei dem Thema Stress, wenn man das permanente Stressniveau von Menschen messen möchte, dann kann man das ja über Bodenstoffen wie das Interleukin 6 z.B. nachweisen im Blut. Gibt es auch für Depressionen so einen faktischen Messgröße? Oder ist das alles auf Basis von Befragungen?
Wie sieht ein Messstandard aus?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (18:57 - 19:56)
Guter Punkt. Das, was Sie da erwähnen, das nennt man ja Biomarker. Es gibt Biomarker.
Z.B. in der Pandemie haben wir ständig Biomarker für die Infektion selber messen müssen mit diesen Wattestäbchen in der Nase usw. Das ist ein wichtiges diagnostisches Instrument. Seit Jahrzehnten wird verzweifelt nach einem Biomarker für Depressionen gesucht.
Von all denen, die der Ansicht sind, Depression ist eine körperlich verursachte Erkrankung, dann müsste es auch einen Biomarker geben. Den gibt es nicht. Wurde nie gefunden.
Es gibt keinen. Depression wird klinisch ermittelt. Durch die Erfassung der Symptome.
Entweder in einem Interview oder in einem Selbstbeurteilungsinstrument. Wenn da genug Punkte zusammenkommen, dann redet man von einer Depression.
[Nils Behrens] (19:57 - 20:28)
Ich erinnere mich noch, am Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre gab es eine Riesenwelle. Ich bin mir nicht ganz sicher. Die hieß Prozempic.
Ein Antidepressivum. Prozac hieß es. Das hat fast popkulturelle Ausmaße angenommen.
Gibt es das heute noch? Oder ist das einer von den Antidepressiven, die Sie hier ankreiden, aber immer noch verschrieben werden?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (20:28 - 21:44)
Prozac war der Handelsname in den USA. Der Wirkstoff ist Fluoxetin. Das ist das 1.
SSRI. Selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Das ist heute noch in Gebrauch.
Es gibt inzwischen viele andere. Der größte Teil der heutzutage verschriebenen Antidepressiva gehört dieser Wirkstoffklasse an. Das war damals ein riesiger Prozess.
Ein riesiger Hype. Mit sehr vielen Heißversprechungen und großen Erwartungen. Es gab ein sehr bekanntes Buch.
Listening to Prozac. Höre, was Prozac, das Antidepressivum, sagt. Sehr pro-Antidepressiva formuliert.
Interessant ist das. Irving Kirsch. Der 1.
und bis heute prominenteste und einer der schärfsten Kritiker von Antidepressiva. Der hat damals schon ein Buch geschrieben. Einen Fachartikel.
Den ernannte Listening to Prozac, but Hearing Placebo.
[Nils Behrens] (21:45 - 22:00)
Da sind wir wieder bei dem Thema. Was mich interessieren würde in dem Zusammenhang. Da mag ich biochemisch nicht so tief drin sein.
Aber meines Wissens ist ja Serotonin quasi das eine Hormon, was sich dann irgendwann in Melatonin umwandelt.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (22:03 - 22:27)
Melatonin hat nicht so viel miteinander zu tun. Serotonin gehört zu den sogenannten Neurotransmittern. Den Botenstoffen, mit denen Zellen miteinander kommunizieren.
Da gibt es verschiedene. Neuadrenalin ist auch einer, der im Zusammenhang mit Depressionen hochgehandelt wurde.
[Nils Behrens] (22:28 - 22:32)
Das heißt also, eine Zusammenhänge mit der Melatoninproduktion ist nicht gegeben?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (22:33 - 22:38)
Nein, das ist biochemisch eine andere Ecke.
[Nils Behrens] (22:39 - 22:47)
Gut, dann verlassen wir die mal. Ich hätte angenommen, dass wenn man in seinen Serotoninhaushalt eingreift, dass es einen Auswirkung auf den Schlaf haben müsste.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (22:47 - 23:16)
Ja, die SSRIs gelten eher als antriebssteigernd. So wird es von den Pharmakonzernen formuliert. Dass die eher bei zu viel Schlaf, zu viel Müdigkeit, bei Antriebsminderung helfen, in den Tag zu kommen.
Als schlaffördernd gelten eher andere Gruppen von Antidepressiva.
[Nils Behrens] (23:17 - 23:28)
Ich habe ja auch nur gesagt, dass es einen Einfluss nimmt. Sie schlagen in Ihrem Buch ja vor, Depressionen ohne Medikamente zu behandeln. Können Sie vielleicht unsere Hörerin mitnehmen, wie denn so etwas ablaufen könnte?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (23:31 - 24:15)
Ich leite ja wie gesagt eine Station, auf der wir schwerpunktmäßig Patienten mit Depressionen behandeln. Das ist eine psychotherapeutisch arbeitende Station. Wir versuchen also zu verstehen, aus den psychologischen und sozialphysiologischen Gründen, warum ist der Patient depressiv geworden?
Warum ist die Depression bis heute nicht abgeklungen? Warum kommt der Patient gerade jetzt? Auf diesem Verständnis basierend, entwickeln wir ein Behandlungskonzept.
Das ist ein intensiver psychotherapeutischer Prozess, den wir in Gang setzen. Der führt meistens auch dazu, dass die Depression zurückgeht, nachhaltig.
[Nils Behrens] (24:16 - 24:22)
Sie widmen ein Kapitel der Selbstverantwortung. Was bedeutet dieser Begriff im Bezug auf Depressionen?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (24:23 - 25:28)
Selbstverantwortung ist ein psychotherapeutisches Konzept, das auf unserer Station doch im Laufe der Jahre immer mehr Bedeutung bekommen hat. Eigentlich ist das ein alter Hut, Selbstverantwortung. Jeder Psychotherapeut weiß, dass das wichtig ist für Patienten, entweder eine gute Voraussetzung, um von Psychotherapie zu profitieren, oder wenn die Selbstverantwortung nicht gegeben ist, ist das das vorrangige Therapieziel, sowas erst mal aufzubauen.
Wir verstehen unter Selbstverantwortung eine innere Haltung, eine Bereitschaft zu akzeptieren, dass jeder Mensch oder die betreffende Person verantwortlich ist für alle Entscheidungen, die sie selbst trifft, verantwortlich für alles, was sie tut, ihr gesamtes Handeln und für alle Konsequenzen, die sich daraus ergeben, im Guten wie im Schlechten. Die Bereitschaft, sich dafür zuständig zu fühlen, das ist das, was wir unter Selbstverantwortung verstehen.
[Nils Behrens] (25:29 - 25:41)
Aber ist es nicht eine Grundvoraussetzung, dass die Patienten, die zu Ihnen kommen, auch eine Erkenntnis haben, dass sie wissen, dass sie ein Problem haben und auch die Bereitschaft, es zu ändern?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (25:44 - 27:00)
Das Wissen, dass ein Problem da ist, also der Leidensdruck, der ist natürlich da. Sonst würden die Patienten gar nicht die Mühen auf sich nehmen, die mit einer vollstationären Behandlung verbunden sind. Was meistens fehlt, ist das Verstehen, warum es zu dieser Erkrankung gekommen ist, warum man überhaupt in diesem depressiven Zustand ist.
Ich mache immer wieder die Erfahrung, wenn ich Patienten kennenlerne, die neu auf die Station gekommen sind, ist meine Standardeingangsfrage, was können wir für sie tun, wie können wir ihnen helfen? Die Antwort ist unterschiedlich, aber fast immer ist es irgendeine Art von, ich möchte, dass es mir besser geht. Das ist logisch, aber das wusste ich vorher.
Es ist ein guter Einstieg ins Gespräch, dennoch, weil meine nächste Frage dann lautet, was muss denn passieren, damit es ihnen besser gehen kann, was muss sich ändern? Dann ist bei über 90% aller Patienten schon Fehlanzeige. Aber es ist gut, trotzdem diese Frage zu stellen, weil es bei den Patienten einen Prozess in Gang setzt, darüber nachzudenken, warum geht es mir eigentlich so schlecht.
[Nils Behrens] (27:02 - 27:25)
Könnte man die Gründe für die Depressionen in irgendeiner Form klastern? Gibt es da eine Art von Themengebiete, Bereiche, wo man sagt, da ist irgendwie Glaubenssätze aus der Kindheit, das liegt vielleicht an Enttäuschung beruflicher Natur, keine Ahnung was. Gibt es eine Art von Klasterung, wo Sie sagen, das sind die Gründe?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (27:26 - 30:36)
Sicherlich. Das kann man aber auch auf ganz unterschiedlichen Ebenen betrachten. Grundsätzlich gibt es nicht die eine Ursache, weswegen ein Mensch depressiv geworden ist, sondern es ist eine Kombination und es ist eine Kombination von innerpsychischen und äußerlichen sozialen oder sozioökonomischen Belastungen.
Ich will ein Beispiel mal geben. Zum Beispiel jemand, ein Mann, vielleicht 50 oder so, der beruflich qualifiziert ist und lange gearbeitet hat und sehr erfolgreich gearbeitet hat und auch stolz darauf war und auch einen gewissen Ehrgeiz hatte, viel Überstunden gemacht hat. Der verliert aus irgendeinem Grund, den er gar nicht selber zu verschulden hat, vielleicht durch irgendeine betriebliche Umstrukturierung, wo sein Arbeitsbereich plötzlich überflüssig wird oder sonst irgendwas.
Er verliert seine Stelle. Das ist immer schwer. Das ist ein belastendes Lebensereignis und es geht einem natürlich nicht gut dabei, aber man wird deswegen nicht zwangsläufig depressiv.
Manche Menschen aber schon. Warum? Das ist interessant.
Was unterscheidet die von anderen? Typischerweise könnte das in dem Fall sein, dass das jemand ist, der von klein auf an vielleicht durch entsprechende Bemerkungen von den Eltern, vom Vater, kein gutes Selbstwertkonzept entwickelt hat, der sich im Grunde für minderwertig hält, vielleicht auch nicht so liebenswert. So Äußerungen, die manchmal von den Eltern vielleicht noch nicht mal so gemeint waren.
Aus dir wird doch nie was. Du hast zwei linke Hände. Dein Bruder kann das alles viel besser.
Das setzt sich oft fest, wenn dahinter eine Haltung der Eltern steckt und führt dazu, dass sich ein negatives Selbstwertkonzept entwickelt, das irgendwie kompensiert werden muss. Häufig, und es funktioniert auch, das ist durchaus ein Erfolgskonzept, wird dieses Defizit an Selbstwert kompensiert durch besondere Leistungen, durch Anerkennung im Beruf, durch Erfolge, die man vorweisen kann. Dann ist es wieder im Gleichgewicht.
Dann beweist jemand sich und vor allen Dingen anderen immer wieder, ich bin doch was wert. Man sieht solchen Leuten gar nicht an, dass die im Grunde ein hohes Risiko haben, einen hohen Risikofaktor depressiv zu werden, weil solange sie erfolgreich sind, stehen die gut im Leben da und sind besonders motiviert, steigen oft auf beruflich und haben ein gutes Einkommen. Man merkt denen nicht an, dass da irgendwie ein Wurm drin ist.
Aber dann, wenn diese Kompensation wegfällt, dann kommt dieses negative Selbstwertkonzept, das nie infrage gestellt wurde, sondern immer nur ausgeglichen wurde, das kommt dann voll zur Wirkung. Dann kann es zum Abschluss kommen, zur Depression.
[Nils Behrens] (30:36 - 31:24)
Ganz interessant. Ich hatte mal in einem anderen Podcast ein Gespräch mit einer Psychologin zu dem Thema. Die sagte, es gibt 6 zentrale Lebensbereiche.
Sie hat es wie einen 6-beinigen Tisch beschrieben. Man hat das Thema Beruf, Familie und Partnerschaft, man hat das Thema soziale Kontakte, man hat die Inequalität oder Hobbys, dann hat man die Glauben oder eine gewisse Spiritualität und dann das Thema Gesundheit. Es ist häufig so, dass Menschen, insbesondere im Burnout gefährdete Menschen, dass die sich nur auf diese Säule Beruf konzentrieren.
Dadurch verlachlässigen sie ihre Familie und Partnerschaft, ihre sozialen Kontakte, ihre Hobbys, ihre Spiritualität und häufig auch ihre Gesundheit. Man steht dann sowieso nur noch auf einem Bein. Wenn dann diese Säule auch noch erschüttert wird, dass das häufig der Punkt ist, wo der Tisch umfällt.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (31:24 - 32:04)
So ist es. Das ist sicherlich ein sinnvolles Konzept, das in 6 Bereiche zu legen. Es gibt viele andere Konzepte, damit kann man gut arbeiten und vielleicht systematisch die Bereiche abklappern.
Wir machen das ein bisschen anders. Wir gehen ganz offen ran und fragen und arbeiten mit den Patienten so lange, bis wir ein individuelles Erklärungsmodell entwickelt haben. Das machen wir.
Das wird auch festgehalten, mit den Patienten besprochen. Natürlich würde sich das alles in solche 6-gliedrigen Modelle einordnen lassen.
[Nils Behrens] (32:05 - 32:24)
Aber so arbeiten wir nicht. Dann darf ich trotzdem mal fragen. Das Thema Psychotherapie ist ein sehr breites Feld.
Da gibt es verschiedene Therapieformen. Wie würden Sie die Therapieform, die Sie anwenden, namentlich benennen? Wie wäre das passende Lehrbuch dazu?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (32:24 - 34:45)
Ich bin Verhaltenstherapeut. Alles, was ich sage, ist ein bisschen befangen. Ich halte nicht viel davon, eine therapeutisch-schulische Arroganz an den Tag zu legen.
In dem Sinne, meine Therapieform ist viel besser als meine, wegen Tiefenpsychologie oder Gesprächstherapie. Ich glaube, jeder hat seine eigene Therapieform. Jeder Therapeut muss die Schule finden und die Arbeitsweise finden, in der er sich am besten wohlfühlt.
Dann kann er auch gut sein in seinem Beruf. Es gibt gute und schlechte Therapeuten in jeder Therapierichtung. Ich fühle mich in der Vereinstherapie gut, weil ich den Eindruck habe, ich kann machen, was ich will, was ich für richtig halte.
Das ist alles unter dem Dach der Vereinstherapie einzuordnen. Wobei ich zugegebenermaßen ein relativ breites Konzept habe. Ich habe in Hamburg an einem Institut meine Therapieausbildung gemacht.
Das nennt sich biografisch-systemische Verhaltenstherapie. Da stecken im Grunde zwei verschiedene Hinweise drin. Neben dem verhaltenstherapeutischen, was mit Übungen, mit Lernen, mit Expositionen zu tun hat, steckt auch drin die Beachtung der Biografie, der prägenden Erfahrungen.
So etwas wie ein Selbstwertkonzept ist nicht angeboten, fällt nicht vom Himmel. Das ergibt sich aus biografischen Konstellationen. Das andere systemisch ist genauso wichtig, dass man einen Patienten in seiner Störung erst dann richtig verstehen kann, wenn man auch weiß, in was für einem sozialen System, in was für einem Gefüge lebt er.
Das fängt an bei der Partnerschaft, bei seinem sonstigen sozialen Umfeld. Oft liegen auch da die Auslöser für die aktuelle Depression. Z.B. in einem chronischen Beziehungskonflikt. Es ist wichtig, Partner oder Partnerin mit einzubeziehen in die Behandlung.
[Nils Behrens] (34:45 - 35:33)
Ich verstehe. Sie hatten eben ein Beispiel aufgemacht. Ein 50-jähriger Mann, der bis hierhin erfolgreich war, verliert seinen Job, fällt in eine Depression, erkrankt an einer Depression.
Wird depressiv. Dann kommt er zu Ihnen. Dann sind Sie derjenige, der von der Kindheit an das betrachtet.
Bis heute. Was sind die frühkindlichen Prägungen? Was ist das, was von außen auf ihn reinkommt?
Was ist das, was sich über eine gewisse Zeit auf andere Wege aufgebaut hat? Habe ich das richtig verstanden?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (35:35 - 36:37)
Ja. Wenn ich nach Kindheit und Herkunftsfamilie frage, ist es für mich umso relevanter, je weiter zurück in der Kindheit das liegt. Dasselbe Ereignis hat für die ganze Persönlichkeitsentwicklung viel weitreichendere Bedeutung, wenn es mit 5 passiert ist, als wenn es mit 10 oder 15 passiert ist.
Insofern, wenn ein Elternteil z.B. krank wird oder stirbt, wenn das jemandem passiert, der in seinen 20ern ist, das ist natürlich trotzdem traurig und belastend. Aber für die eigene Autonomieentwicklung hat das bei Weitem nicht die gleichen Folgen, wie wenn das einem 5-Jährigen passiert, der dann schon einen Elternteil verliert oder erlebt, dass er krank ist oder leidet. Das ist prägend und hat viel mehr Folgen für die weitere Lebensgestaltung.
[Nils Behrens] (36:39 - 37:29)
Verstehe ich. Ich kann mir aber vorstellen, dass das sehr schwer ist, das zu finden. Ich hatte gerade ein Gespräch von jemandem mitbekommen, der fragte, ob ich eine glückliche Kindheit hatte.
Ich glaube, dazu geht es vielen. Wir Menschen tendieren dazu, immer zu idealisieren im Nachhinein. Als er sich tiefer damit auseinandergesetzt hat, auch mit therapeutischer Hilfe, stellte sich heraus, dass sich da doch gewisse Glaubenssätze, Prägungen, Muster ergeben haben.
Ich stelle mir diese fast detektivische Arbeit unheimlich schwierig vor. Ist es tatsächlich auch so, dass Sie daran auch mal scheitern? Das ist ein komisches Wort.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (37:30 - 40:40)
Das ist nicht gelingt. Die Frage ist berechtigt. Sie haben völlig recht.
Das ist fast schon ein Klassiker, wenn ich nach der Kindheit frage. Meine Mutter war liebevoll und fürsorglich. Mein Vater hat immer viel gearbeitet.
Wenn er da war, hat er gern mit uns gespielt. Das ist fast ein Stereotyp. Es stimmt meistens nicht.
Es gibt keine Kindheit, in der alles ideal verlaufen ist. Das muss es aber auch nicht sein. Wir brauchen keine idealen Eltern, um uns halbwegs gesund entwickeln zu können.
Eine gewisse Robustheit haben wir. Sonst wären die Menschen schon längst ausgestorben. Die meisten Eltern meinen es gut und wollen alles richtig machen.
Aber sie haben oft eigene Probleme, eigene Beschränkungen, eigene Belastungen, die sich negativ auf ihr Verhalten gegenüber den Kindern auswirken. Das ist meistens ganz unverschuldet. Etwa ein chronischer Partnerschaftskonflikt zwischen den Eltern.
Oder der Vater trinkt und wird aggressiv und schlägt die Mutter oder schimpft und streitet die Mutter. Er ist hinterher ganz traurig und weint auf dem Sofa. Das Kind kommt und anfängt zu trösten.
Solche Geschichten. Sie haben recht. Das ist Detektivarbeit, das herauszufinden.
Es ist aber auch ein Problem, wenn man sich damit begnügt. Wenn man erst mal sagt, meine Kindheit war gut. Wenn man es nicht gut macht.
Dann stellt man artig die Frage nach der Kindheit und der Herkunftsfamilie. Der Patient gibt dann diese Antwort. Man macht einen Haken dran und sagt, in der Kindheit war wohl alles in Ordnung.
Ich habe ehrlich gesagt den Verdacht, es gibt den Mythos der sogenannten Endogenendepression. Ich sage jetzt Mythos. Das ist ein älterer Begriff.
Endogen bedeutet aus dem Inneren herauskommend, biologisch, nicht psychologisch oder sozial verursacht. Endogen von innen kommt. Ich habe den Verdacht, dass diese Idee aufgekommen ist, weil Leute nicht genau genug nachgefragt haben.
Gerade wenn man als Therapeut oder als Wissenschaftler ein biologisches Krankheitsmodell im Kopf hat, dann sucht man eher nach den biologischen Erklärungen. Dann ist es nicht ganz so sorgfältig und konsequent, wenn es um die psychosozialen Faktoren geht. Die Patienten liefern das nicht immer uns so, wie wir das haben wollen, wie wir das gerne hätten.
Das ist ein ganz wesentlicher Teil der therapeutischen Arbeit. Für mich ist das bei jeder Behandlung der anstrengendste Teil meiner Arbeit. Wenn ein Patient neu auf die Station kommt, ihn zu verstehen mit diesen simplen Fragen.
Warum ist er krank geworden? Warum ist er nicht von alleine wieder gesund geworden? Ganz einfache Fragen.
Aber die Antwort darauf zu finden, dass es harte Arbeiten dauert, ist wichtig.
[Nils Behrens] (40:40 - 41:28)
Ich hatte gerade zwei Personen, die sehr offen darüber gesprochen hatten. Bei denen war die Erkenntnis, das Aufdecken der Glaubenssätze, fast der größte Teil der Therapie. Das war in dem Augenblick, wo es klar wurde, das war in beiden Fällen ein Beziehungsmuster geprägt, aber der eine sagte, Frauen haben ihn immer verlassen, die andere sagte, dass sie bei ihren Liebsten nie die Priorität hatte, die sie gerne haben wollte.
Allein das Reduzieren von Glaubenssätzen hat bei denen 80 % des Behandlungserfolges ausgemacht.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (41:31 - 42:49)
80 % vielleicht nicht, aber dass es ein ganz wesentlicher Moment ist, das kann ich absolut bestätigen. Wir haben 2-3 Aufnahmen pro Woche. Ich führe 2-3 Mal pro Woche solche Gespräche.
Wenn man am Ende des Gesprächs ein Verständnis entwickelt hat, dass das ein ganz aufwühlender Moment ist, ein emotionaler Moment. Dass da die Tränen fließen. Ich frage sie immer, wie geht es ihnen denn jetzt damit?
In den meisten Fällen kriege ich eine Antwort, wie ich bin ganz traurig und vielleicht auch wütend. Aber es geht mir im Grunde auch gut, weil ich zum 1. Mal richtig verstanden habe, wieso immer wieder das und das passiert.
Zum 1. Mal ergibt das für mich eine Art von Sinn. Das ist eine gute Basis für die weitere Behandlung.
Man kann darauf immer wieder zurückgreifen. Auf das, was man da herausgearbeitet hat. So wie retrospektiv die Leidensgeschichte einen roten Faden bekommt, hat man dann auch für die weitere therapeutische Arbeit einen Leitfaden entwickelt.
[Nils Behrens] (42:50 - 42:55)
Sie berichten von einer Langzeitstudie in Ihrem Zentrum. Welche wichtigen Erkenntnisse konnten Sie daraus gewinnen?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (42:57 - 48:17)
Die Langzeitstudie wurde auf meiner Station durchgeführt. Ich habe 2012 damit angefangen. Das Ziel war, erst mal herauszufinden, welche Erfolge haben wir mit unserer vollstationären Behandlung insgesamt, also mit dem Gesamtkonzept, mit allem, was dazugehört.
Psychotherapie, Pharmakotherapie, Arbeitstherapie, Ergotherapie, Sportangebote und alles zusammen. Jeder Patient, der aufgenommen wurde, hat teilgenommen. Es gab keinen Patienten, der gesagt hat, das möchte ich nicht.
Das ist eine Kompletterhebung. Als wir knapp 600 Patienten zusammen hatten, Ende 2017, habe ich gedacht, das lohnt sich. Jetzt werte ich das mal aus.
Das Ergebnis war, wir haben geguckt, wie sich die Depression verändert. Das ist der gemeinsame Nenner, weswegen Patienten die vollstationäre Hilfe suchen. Egal, was die Diagnose ist, der individuelle Hintergrund, es mündet alles in einem depressiven Zustand, der vollstationär behandelt werden muss.
Deswegen habe ich das als Kennwert genommen. Das Ergebnis war erfreulich. Die vollstationäre Behandlung hat einen starken Effekt.
Die Depression geht sehr stark zurück. Und noch wichtiger, wir wollen, dass es unseren Patienten am Ende der Behandlung gut geht. Besser als vorher.
Aber wir wollen, dass das nach Ende der Behandlung bei Entlassung, wenn die Patienten wieder in ihr richtiges Leben zurückgehen, auch noch anhält. Deswegen haben wir die Patienten ein halbes Jahr nach Entlassung angeschrieben und ihnen den Depressionsfragebogen geschickt. Die meisten haben geantwortet.
Wir konnten finden, dass der gute Zustand am Ende der Behandlung zu immerhin 70% gegeben ist, auch ein halbes Jahr später. Damit kann man ganz zufrieden sein. Es zeigt sich, dass es einen Teil gibt, der schwer erreichbar ist.
Psychotherapie ist kein Wundermittel. Aber das war gut. Ein starker Effekt, verglichen mit dem Zustand bei Aufnahme.
Es war nicht die Intention dieser Studie, wie die Antidepressiva wirken. Das ergab sich bei der Arbeit mit den Daten. Die Medikamente werden dokumentiert.
Das konnten wir sehr genau feststellen. Welche Antidepressiva haben die Patienten bei Aufnahme bekommen? Welche bei Entlassung?
Was hat sich da getan? Zu meiner Überraschung damals noch, hat sich herausgestellt, es macht keinen Unterschied. Ob die Patienten ohne Antidepressiva bekommen, oder ob wir ihnen Antidepressiva verordnen, als Teil unserer Behandlung.
Die Patienten kommen mit einem Antidepressiva und behalten es unverändert bei. Oder sie setzen es aus irgendwelchen Gründen während der Behandlung ab. Oder es wird etwas verändert.
Die Dosis, das Präparat. Es hat überhaupt keine Auswirkungen. Das habe ich nicht verstanden.
Ich hatte ohnehin keine hohen Erwartungen an eine Antidepressiva. Aber ich habe gedacht, ein bisschen bringt es. Gerade bei schwierigen Verläufen, wo die Psychotherapie nicht so gegriffen hat, habe ich selber die Empfehlung abgegeben.
Bei denen sollten wir Antidepressiva einsetzen. Ich hatte keine Vorbehalte. Ich habe auch keine besonderen Wunder erwartet.
Antidepressiva ist ja ähnlich. Man nimmt sie und eine halbe Stunde später geht es einem gut. Oder am nächsten Tag.
Aber ich habe vergeblich danach gesucht. Das war Ende 2017. Ich habe dann angefangen, mich einzulesen in die Fachliteratur.
Es gibt einmal diese kaum überschaubare Menge an Doppelblindstudien. Die ja einen Therapieeffekt nachweisen. Angeblich.
Aber es gibt auch sehr viele kritische Fachliteratur. Schon seit Jahrzehnten. Damit habe ich mich eingelesen.
Dann ist mir klar geworden, warum wir keinen Effekt von Antidepressiva gefunden haben. Weil sie eben nicht gegen Depressionen helfen. Außer dem Placeboeffekt.
Aber wir haben auch keinen Placeboeffekt auf der Station gehabt. Wir haben gar keinen Effekt gehabt. Für mich war die Konsequenz, eine therapeutische Maßnahme wie ein Medikament, das auf jeden Fall Nebenwirkungen hat.
Schädliche Nebenwirkungen, aber keinen therapeutischen Nutzen. Das ist gar nicht vertretbar für mich gewesen. Das dann noch weiter zu verwenden.
Ab 2018 gehören Antidepressiva nicht mehr zu unserem Therapiekonzept.
[Nils Behrens] (48:18 - 49:01)
Okay, ich verstehe. Darf ich mal fragen, weil Sie immer von Ihrer Erfahrung mit der stationären Psychotherapie sprechen. Es ist ja schon so, dass man so etwas häufig nicht ganz machen kann, ohne dass es das Umfeld mitbekommt.
Klar kann man, wenn es nur kurz ist für 2 Wochen, sagen, ich war im Urlaub. Man weiß meistens, wenn man einen stationären Aufenthalt beginnt, nicht unbedingt, wie lange es ist. Wo liegt die Grenze, da kann ich in die Verhaltenstherapie ambulant gehen?
Wo ist der Anlass für eine stationäre Behandlung? Haben Sie Vergleiche, wie viel effektiver der stationäre Aufenthalt wäre?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (49:04 - 50:16)
Ab wann ist die stationäre Behandlung angezeigt? Es gibt Patienten, die sind schwer depressiv und kommen trotzdem halbwegs noch im Leben zurecht. Sprich, sie können ihre Wohnung in Ordnung halten.
Sie können sich selber pflegen und vernünftig ernähren. Sie schleppen sich vielleicht auch noch zur Arbeit. Aber das geht vielleicht auch noch.
Das muss nicht stationär behandelt werden. Da wäre auch eine Psychotherapie dringend angeraten. Aber das kann ambulant erfolgen.
Vollstationäre Behandlung ist immer dann wichtig, wenn man seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann. Wenn man seinen Tag nicht mehr strukturieren kann. Wenn man sich nicht mehr versorgen kann.
Und wenn es zu Suizidgedanken kommt. Die meisten depressiven Patienten kriegen irgendwann solche Gedanken. Wohnt sich das überhaupt noch?
Das ist noch nicht dasselbe wie Suizidalität. Aber es kann natürlich dazu kommen. Spätestens dann sollte man über eine vollstationäre Behandlung nachdenken.
[Nils Behrens] (50:16 - 50:18)
Was würden Sie sagen zu dem Effizienzgrad?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (50:21 - 51:56)
Vollstationäre Behandlung ist viel intensiver. Man muss sich das so vorstellen. Jemand, der aus seinen normalen Lebensbezügen herausgehoben wird.
Und auf einer Station eine Zeit lang lebt. Wir reden hier von 8-10 Wochen im Durchschnitt. Der ist vollständig auf sich selber zurückgeworfen.
Das ist eine ganz andere Konzentration. Das ist auch nicht unbedingt angenehm. Wenn ich zu mir komme, weiß ich oft gar nicht, wen treffe ich dann an.
Vielleicht wird manchen Patienten erst dann richtig bewusst, wie schlecht es ihnen geht. Wie schlecht es ihnen schon seit langer Zeit geht. Zugleich kann man im vollstationären Setting auch schlecht ausweichen.
Es gibt wenig Ablenkung. Es gibt Einzelgespräche mehrere Wochen. Es gibt Gruppen.
Es gibt die Routinen des stationären Ablaufes. Man ist wirklich angehalten. Man kann sich vielleicht zum 1.
Mal im Leben mit sich und seinen eigenen Themen zu beschäftigen. Man kann es vergleichen mit einem Dampfkochtopf. Der unter hohem Druck bestimmte Garungsprozesse viel schneller erreicht.
Als Kochen auf kleiner Flamme. Da kommt man auch ans Ziel, aber es dauert länger.
[Nils Behrens] (51:57 - 52:11)
Ich verstehe. Das ist ein sehr gutes Beispiel. Durchschnittliche Behandlungszeit sind 8-10 Wochen.
Es ist etwas, was man nicht so einfach in der Umwelt verschweigen kann. Das hatten Sie auch erwähnt.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (52:12 - 52:25)
Warum sollte man das seiner Umwelt verschweigen? Klar, das geht nicht unbedingt den Chef oder Kollegen an. Da muss man überlegen.
Warum sollte man daraus ein Geheimnis machen?
[Nils Behrens] (52:25 - 53:59)
Ich bin glücklich darüber, dass ich das Gefühl habe, dass es weniger stigmatisiert ist als früher. Aber weniger heißt nicht gar nicht mehr. Das ist der Punkt 1.
Ich hoffe, dass es irgendwann so weit ist, wie es vielleicht auch in den USA, wo jeder über seinen großartigen Therapeuten spricht. Da sind wir in Deutschland noch nicht ganz so weit. Das Thema mentale Gesundheit steht nicht auf der gleichen Stellenwert wie eine physische Einschränkung.
Wenn ich mir das Bein breche, würde keiner sagen, warum machst du da ein Gips drum? Wir verstehen, was ich meine. Bei mentaler Gesundheit wird es häufig aufgeschoben.
Auch das würden wir nicht tun. Wenn wir einen Knochenbruch haben, kümmere ich mich darum, wenn ich Zeit habe. Im Augenblick brauche ich das Bein noch.
Das geht nicht, weil man es nicht benutzen kann. Da sind wir in Deutschland noch nicht ganz so weit. Meine Frage ist, man hat das Gefühl, dass wir eine massive Zunahme von Depressionen beobachten.
Liegt es daran, dass sich mehr darüber beschäftigt wird? Liegt es daran, dass sich gesellschaftliche Faktoren verändert haben, sodass es dazu führt, dass wir mehr Depressionsfälle haben?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (54:01 - 56:03)
Das ist eine schwierige Frage. Die ist nach meiner Wahrnehmung in der Fachliteratur noch umstritten. Wenn man herausfindet, es scheint leicht zu sein, man muss bloß auszählen, wie viele Patienten es gibt.
In Ihrer Frage steckt das auch schon drin, methodische Schwierigkeiten. Wenn es mehr Fälle von Depressionen gibt, mehr ambulante oder stationäre behandelte Fälle, kann das auch die Folge sein, z.B. einer erhöhten Sensibilität für das Thema und einer verstärkten Anspruchnahme von Angeboten des Gesundheitsministeriums. Ohne dass es mehr Fälle als früher gibt.
Das ist nicht so leicht auseinanderzuhalten. Was man relativ sicher sagen kann, es gibt nicht weniger Depressionen als früher. Da gibt es keinen, der das behaupten würde.
Ob das angestiegen ist oder nicht, das ist eine andere Frage. Es würde mich nicht wundern, weil bestimmte sozioökonomische Faktoren und Bedingungen haben sich einfach verschlechtert. Die gehen mit einem erhöhten Depressionsrisiko einher.
Aber da möchte ich mich gar nicht so weit aus dem Fenster lehnen. Einen anderen Zusammenhang möchte ich herstellen. Wenn man bedenkt, wie sehr die Verschreibung von Antidepressiva zugenommen hat, es gibt z.B. eine Zahl, eine Statistik von 1990 bis 2015, die die Anzahl der Verschreibungen verzehnfacht. Dann ist es bemerkenswert, dass in dem Maße die Depression nicht zurückgegangen ist, sondern zumindest gleichgeblieben, vielleicht sogar angestiegen ist. Das wirft auch noch mal ein Licht auf die Wirksamkeit von Antidepressiva.
[Nils Behrens] (56:03 - 57:11)
Absolut. Wenn ich mich von Antidepressiva entferne, kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Ich weiß, dass Sie mit einer stationären Klinik schon die deutlich schwereren Fälle behandeln.
Nichtsdestotrotz, das Thema der frühkindlichen Prägung, ich habe manchmal das Gefühl, und da würde mich Ihre Meinung interessieren, dass eigentlich diese Themen aufzuarbeiten, nahezu jedem guttun würde. Ich hätte das Gefühl, dass es kaum jemanden gibt, dem es nicht guttun würde, wenn man sich in eine Therapie, in eine Behandlung begeben würde, um gewisse Themen aufzuarbeiten. Ich will die Auswirkungen auf das Krankheitssystem und die Auslassung von Psychotherapeuten völlig außen vor.
Würden Sie mir grundsätzlich zustimmen, dass wahrscheinlich 80-90 % der Menschen eine Art von Therapie, Coaching, Gespräch über genau dieses Thema nicht immer guttun würde?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (57:14 - 59:00)
Ja und nein. Ich glaube, dass es für jeden Menschen gut ist, sich mit sich selber auseinanderzusetzen, mit seiner eigenen Herkunftsgeschichte, mit seinem Werdegang, gut in Kontakt mit sich zu sein, sich selber seine Gefühle zu ergründen. Das würde ich im Rahmen von normaler Persönlichkeitsentwicklung einordnen.
Ich würde dafür jetzt auch nicht Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen, weil wir reden da nicht von Krankheit, sondern von Persönlichkeitsentwicklung. Insofern ja, da gebe ich Ihnen recht. Ich würde es mir bei manchen meiner Mitmenschen wünschen, dass sie sich ein bisschen mehr mit sich selber beschäftigen.
Aber sie sind nicht krank. Sie leiden vielleicht noch nicht mal, vielleicht manchmal die Umgebung mehr als die Person selber. Wenn Leistungen des Gesundheitssystems und der Allgemeinheit, der Kassenbeiträge sollten eben beschränkt sein darauf, dass es wirklich Krankheit gibt, also wirklich die Fähigkeit, die Probleme nicht mehr kompensieren zu können.
Ich hatte ja vorhin gesagt, der vollstationäre Bereich ist ja sowieso für die schwersten Fälle vorgesehen, die wirklich es nicht mehr alleine hinkriegen können, wo sogar akute Gefährdungsmomente gegeben sind. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, wenn ich auf die andere Frage zurückkommen kann, die Patienten, die ich kennenlerne, die können das gar nicht mehr verheimlichen. Da ist klar, die Umgebung hat das schon längst mitbekommen, dass sie depressiv sind und leiden.
[Nils Behrens] (59:01 - 59:55)
Es gibt ja relativ viele Menschen, die in ihren 70ern, vielleicht sogar 80er-Jahren sind, die haben natürlich häufig auch gerade so Nachkriegszeit wirklich viele, ich sage jetzt mal, nicht so gute frühkindliche Prägung erfahren. Was würden Sie denn sagen, wenn jetzt jemand mit Mitte 70, 80, ich will da gar nicht mal unbedingt Depressionen, aber häufiger Angstzustände oder Panikattacken oder solchen Themen dann eben leidet. Ist das etwas, wo man immer noch quasi in die Therapie gehen kann und diese frühkindlichen Prägungen vielleicht auflösen kann und dann die hoffentlich noch folgenden 5 bis 20 Jahre dann davon befreit zu arbeiten?
Oder würden Sie sagen, das ist dann schon unter so einem großen Berg von Erfahrungen dann begraben, dass man wahrscheinlich das nicht mehr ausgraben bzw. auch sein Verhalten nicht mehr so ändern kann?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (59:57 - 1:00:57)
Ich finde auf jeden Fall, Sie hatten jetzt Panikattacken oder Angstzustände benannt, das ist ja ein massives Symptom mit großen Einschränkungen verbunden. Man sollte dem auf jeden Fall auf den Grund gehen und zwar egal wie alt jemand ist. Das steht jetzt auch einer erfolgreichen Therapie gar nicht im Wege.
Es ist immer wieder die Frage der Änderungsmotivation, der Bereitschaft, Selbstverantwortung zu übernehmen. Das ist das, was den Unterschied ausmacht, ob eine Therapie erfolgreich ist oder nicht. Aber nach meinen Erfahrungen, das Lebensalter spielt dabei keine besondere Rolle.
Klar, bestimmte Verhaltensmuster sind vielleicht bei einem 70-Jährigen viel eingefahrener als bei einem 30-Jährigen. Aber das heißt nicht, dass keine Änderung mehr möglich ist und keine Weiterentwicklung überhaupt nicht.
[Nils Behrens] (1:00:58 - 1:01:04)
Sie sprechen in Ihrem Buch ja auch über die konstruktive Aggression. Könnten Sie uns diesen Ansatz etwas näher bringen?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (1:01:04 - 1:11:28)
Ja, gerne. Darunter verstehen wir ein Verhaltenssystem, das sich in der menschlichen Evolution herausgebildet hat. Das ist sozusagen unsere theoretische Einordnung.
Das Ziel hat oder den Sinn hat, die sozialen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe, eines sozialen Systems zu regulieren und auszugestalten. Eine Gruppe, das kann eine Familie sein, das kann ein Arbeitsumfeld sein, das kann eine eigene Partnerschaft sein, sozusagen die Zweiergruppe, egal. Dahinter steckt in der Evolutionsbiologie ein altbekanntes Problem, dass alle sozialen lebenden Arten lösen müssen, nämlich die Balance zu finden zwischen den kooperativen Interessen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe und den konkurrierenden Interessen.
Das gibt es immer. Und eine Gruppe, bei der das nicht gut ausbalanciert ist, die funktioniert nicht gut. Und das ist dann für keinen gut.
Deswegen gibt es so eine Notwendigkeit, dass es einen psychologischen Mechanismus gibt, auch bei Menschen, der das Problem irgendwie löst. Das ist die konstruktive Aggression. Letzten Endes geht es darum, dass man die eigenen Bedürfnisse, die eigenen Interessen, die eigenen Grenzen angemessen in die Interaktion einbringt.
Dass man gut für sich sorgt, dass man das kriegt, was man bekommt, dass man sich abgrenzt, wo Grenzen überschritten werden. Das ist das, was konstruktive Aggression bewirkt. Nun ist das ein problematischer Name, konstruktive Aggression, weil unter Aggressionen im Allgemeinen etwas ganz anderes verstanden wird.
Nämlich Gewalt, Gewalttätigkeit gezielt mit dem Wunsch, andere zu schädigen, zumindest verbal zu schädigen, oft genug physisch durch Schläge etc. Das ist ein ganz anderes Verhaltenssystem. Diese destruktive Aggression hat mit konstruktiver Aggression gar nichts zu tun.
Das ist mal wichtig zu unterscheiden. Konstruktive Aggression ist gewaltfrei, drückt sich aus über das, was man sagt und mindestens genauso, vielleicht sogar noch mehr, die Art und Weise, wie man es sagt, Mimik, Tonfall. Wenn ich sage, das fand ich jetzt aber nicht gut, dass du das und das gemacht hast, dann hat das viel weniger Wirkung, als wenn ich sage, das finde ich richtig Mist und das muss jetzt aufhören.
Da ist viel mehr Nachdruck dahinter. In dem Fall wird deutlich, ich habe mich gerade geärgert und ich will, dass das endet. Die konstruktive Aggression ist wunderbar, um das alles zu regeln und das Miteinander so zu gestalten, dass das funktioniert.
Dass man dann den richtigen Kompromiss findet. Dass jeder das bekommt, was er braucht und die roten Linien eingehalten werden. Das Problem ergibt sich dann, das ist uns auch natürlich angeboren.
Das muss kein Kind lernen. Jedes Kind hat ein gutes Gefühl dafür, was fair ist und was nicht. Ein Gedankenexperiment, um dem Hintergrund von konstruktiver Aggression sich anzunähern.
Stellen Sie sich vor, da sind zwei Kinder und sie wollen beiden eine Freude machen und geben jedem von diesen Kindern ein Bonbon. Beide werden sich freuen und dankbar sein. Dann sagen sie sich, das war schön, ich möchte die Freude der beiden Kinder noch vergrößern und gebe ihnen jetzt noch mehr Bonbons.
Dann geben sie dem einen zwei und dem anderen vier. Überlegen Sie, was dann passieren wird. Es wird wahrscheinlich nicht so sein, dass die beiden Kinder sich noch mehr freuen.
Das andere vielleicht doppelt so, das andere viermal so. Nein, es wird was ganz anderes passieren. Es wird wahrscheinlich zu Problemen, zu Stress, zu etwas Konflikthaftem kommen.
Weil das Kind mit den zwei Bonbons wird sich benachteiligt fühlen, wird das irgendwie unfair finden. Warum eigentlich das Problem, könnte man fragen. Das hat doch mehr als vorher, es hat auf jeden Fall einen Gewinn.
Aber so einfach ist das eben nicht. Dieses intuitive Gefühl, das ist unfair, vielleicht auch das Kind, das vier Bonbons bekommt, vielleicht ist es für das Kind auch nicht angenehm, weil es das nicht gerecht findet, dass das andere benachteiligt wird. Das ist angeboren.
Das ist vielleicht so wie die Fähigkeit zur Sprache, die ist uns Menschen ja auch angeboren. Welche Sprache wir lernen, welchen Dialekt wir lernen, das hängt von dem Umfeld ab. Aber dass wir sprechen lernen, das liegt in unseren Genen.
So kann man das auch bei der Fähigkeit zur konstruktiven Aggression annehmen. Wie sich die ausdrückt, das wird einmal biografisch gesteuert durch die Modelle der Eltern. Das wird auch durch die Kultur, in der man sich entwickelt, gesteuert und individuell eingefärbt.
Das ist normal. Problematisch ist, dass es dabei sowohl biografisch als auch kulturell Einflüsse geben kann, die diese konstruktive Aggression hemmen. Aggressionshemmung führt dazu, dass ich mich nicht genug einbringe.
Es gibt hier die Redensart von Leuten, die immer gerne den unteren Weg gehen. Die Konflikten aus dem Weg gehen lieber, die sich immer eher zurücknehmen. Nach einem Essen ist auf dem Tisch noch ein leckeres Stück Fleisch übrig.
Menschen mit Aggressionshemmung würden niemals sagen, auch hätte ich das gerne. Wenn da alle am Tisch aggressionsgehemmt sind, dann ist es keiner. Jemand, der so konstruktiv-aggressiv für seine Bedürfnisse sorgen kann, der fragt, möchte das vielleicht noch jemand von euch haben?
Wenn nicht, dann nehme ich das jetzt. Und sorgt dann für sich. Aggressionsgehemmte kommen immer zu kurz.
Sie lassen zu, dass ihre Grenzen überschritten werden. Sie sorgen nicht dafür, dass sie kriegen, was sie gerne hätten oder vielleicht sogar brauchen. Sie leiden.
Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen, die aggressionsgehemmt sind, in allen Lebensbereichen unzufrieden sind. Wir reden hier von Gesunden. Die sind unzufrieden in ihrem Leben.
Im Bereich Wohnen, soziale Kontakte, Beziehung, Sexualität, Partnerschaft. Überall unzufrieden. Und wir haben festgestellt, dass die Hemmung der konstruktiven Aggression auch ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Depression ist.
Im Durchschnitt sind alle unsere Patienten, die wir mit Depressionen aufnehmen, ausgesprochen stark aggressionsgehemmt. Ziel der Behandlung ist, diese Aggressionshemmung zu reduzieren. Den Zugang zur konstruktiven Aggression zu fördern.
Das fängt oft damit an, dass die Patienten lernen, es ist gar nicht schlimm, wenn ich mich mal über jemanden ärgere. Oder dass sie lernen, ich muss gar nicht die Wünsche aller anderen immer erfüllen. Ich muss nicht jeden Gefallen erfüllen, um den ich gebeten werde.
Ich kann auch prüfen, ist das für mich gerade in Ordnung. Ich kann auch mal Nein sagen. Und wenn der andere sich enttäuscht ist oder sich ärgert über mich, ist das auch nicht schlimm.
Das muss man lernen und sich aneigen. Dahinter sitzen oft Befürchtungen, frühkindliche, schädliche Glaubenssätze. Aber man kann das lernen, man kann das überwinden und neue Erfahrungen machen.
Es gelingt auch ganz gut in der Behandlung, dass die Aggressionshemmung ganz deutlich von der Aufnahme bis zur Entlassung zurückgeht. Was wir festgestellt haben, ist, dass das Ausmaß der Depressivität auch davon abhängig ist, wie aggressionsgehemmt ist jemand. Und der Behandlungserfolg ist umso größer, je geringer die Aggressionshemmung am Ende der Behandlung ist.
Je höher der Behandlungserfolg. Wir haben festgestellt, dass eine geringe Aggressionshemmung, eine erfolgreiche Behandlung, auch noch ein halbes Jahr nach Entlassung weiterwirkt. Ich hatte ja gesagt, wir schreiben die Patienten auch noch an.
Ein halbes Jahr nach Entlassung, die meisten antworten. Wir können quasi vorhersagen, wie depressiv ein Patient ist ein halbes Jahr nach Entlassung. Das können wir vorhersagen damit, wie stark die Aggressionshemmung noch war.
Oder wie gut sie zurückgegangen ist. Wir können sogar mit gewissen Grenzen vorhersagen, ob es innerhalb des Jahres nach der Entlassung noch zu einem Rückfall kommt. Mit Wiederaufnahme.
Auch das, innerhalb dieses Jahres passiert ja sehr viel. Sehr viele unerwartete Ereignisse, Veränderungen zwischendurch, auch Behandlungen. Aber wir können sagen, die Patienten, die stationär wieder zurückkommen, die wieder depressiv geworden sind, stationär behandlungsbedürftig wurden, das sind die, die bei Entlassung auch noch sehr stark aggressionsgehemmt waren.
Das ist schon bemerkenswert. Dass das sich so weitreichend auswirkt, es hat überhaupt nichts zu tun mit der Frage, ob jemand einen Antidepressivum bei Entlassung nimmt oder nicht. Das hat überhaupt keinen prädiktiven Wert.
Aber dieser psychologische Faktor der Aggressionshemmung, der ist wichtig.
[Nils Behrens] (1:11:28 - 1:12:22)
Vielen Dank, dass Sie das so ausführlich erläutert haben. Ich finde, das gibt einen ganz guten Blick. Ich erkenne gewisse Muster wieder, die ich schon häufiger hatte mit Menschen, die nach einer Therapie zurückgekommen sind, wo man genau das beobachten kann.
Teilweise ist es da ein relativ schmaler Grad zwischen einer konstruktiven Aggression, aber auch etwas, was man vielleicht teilweise als einen sehr starken, ausgeprägten Egoismus eigentlich auch interpretieren könnte. Es ist immer ganz interessant, dass es quasi den Sweetspot von jemandem, der vorher immer nur bereit war, zurückzugehen, nur geben wollte, ist natürlich eine gewisse Art von Wesensveränderung immer mit verbunden. Nur ich habe manchmal das Gefühl, dass diese Tür, die vorher in die falsche Richtung stand, sehr stark in eine andere Richtung geschwungen ist.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (1:12:22 - 1:13:03)
Ja, mag sein in Einzelfällen, aber grundsätzlich ist das eigentlich eher die Befürchtung von Menschen mit Aggressionshemmung. Wenn ich denn für mich einstehe, wenn ich zum Beispiel frage, kann ich dieses Stück Fleisch haben, bin ich dann nicht egoistisch? Das ist ja auch kein gutes Therapieziel, dass Leute egoistischer sind.
Das würde ich auch niemandem so anraten. Es geht nur darum, die eigenen Bedürfnisse und Grenzen für wichtig zu halten und die eben auch mit einzubringen.
[Nils Behrens] (1:13:04 - 1:13:37)
Ich habe das sehr gut verstanden. Sie haben es sehr gut erklärt. Ich habe nur gesagt, dass meine Erfahrung teilweise ist, dass die Menschen aus der Therapie manchmal zu diesem Punkt von Ich bin bereit, nur zurückzutreten, hin zu einer gewissen, schon auch einer Art von sehr stark ausgeprägtem Egoismus, nach dem Motto, jetzt muss ich mich hier aber mal durchsetzen.
Jetzt muss erst mal ich, ich, ich. Ich will damit gar nichts kritisieren, sondern eine Beobachtung.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (1:13:37 - 1:14:15)
Nein, ich glaube Ihnen, wenn Sie die Erfahrung gemacht haben, ich versuche das nur zu erklären. Ein Aspekt könnte dabei sein, dass es Leute gibt, die vielleicht die ersten 30 Jahre ihres Lebens viel zu sehr zurückgesteckt haben, dass die jetzt erst mal in die andere Richtung ein bisschen zu sehr überreguliert sind. Dann hat das so etwas Egoistisches.
Sie haben vielleicht noch gar nicht die richtige Mitte gefunden. Das mag sich dann so auswirken. Aber wenn das Ergebnis einer Therapie war, dass da ein Egoistisches entstanden ist, da ist etwas schiefgelaufen.
[Nils Behrens] (1:14:17 - 1:14:27)
Das wollen wir auch nicht hoffen, aber zumindest hoffe ich für die Personen, die das Pendel erst mal sehr stark in die andere Richtung schwingen lassen haben, dass die dann irgendwann mal wieder in den balancierten Bereich zurückschwingen.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (1:14:27 - 1:14:52)
Was da hilft, ist die konstruktive Aggression des Umfelds. Das soll uns ja auch vor dem Egoismus anderer schützen. Das gibt es ja durchaus.
Unsere Mitmenschen sind ja nicht alle nur Engel. Es ist gut, da seine Grenzen zu haben. Wenn man nur von Menschen umgeben ist, die rücksichtsvoll und vorauseilend gehorsam sind, dann braucht man keine konstruktive Aggression.
Das machen die anderen, aber so ist es nicht.
[Nils Behrens] (1:14:52 - 1:15:05)
Wir kommen jetzt langsam zum Ende. Sie haben jetzt noch mal die Chance, eine Hoffnung für alle Betroffenen auszusprechen. Was wünschen Sie sich für Menschen, die an Depressionen leiden und Ihr Buch lesen?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (1:15:09 - 1:18:47)
Was ich mir wünsche, was wirklich auch meine Intention war, also in dieses Buch ist wirklich der größte Teil meiner Erfahrung eingeflossen, die ich als Wissenschaftler und als Therapeut mit Depressionen gemacht habe, ich möchte zuallererst, dass die Patienten verstehen, warum sie depressiv geworden sind. Ich fange noch mal an. Es sind ja nicht alles Depressive.
Ich möchte zuallererst klarmachen, dass man Depressionen verstehen kann. Dass das nicht etwas ist, wie ein Gewitter über uns hereinbricht. Und schicksalhaft.
Und dass man letzten Endes nur warten muss, bis das hoffentlich irgendwann mal vergangen ist, wie eine Gewitterwolke, die weiterzieht. Sondern nein, man kann das verstehen. Man kann es erklären.
Und man kann es erklären allein aus psychologischen und sozialen Faktoren. Ich möchte aufräumen mit diesen Mythen, die da existieren, die letzten Endes darauf hinauslaufen, Depressionen ist wie eine körperliche Erkrankung und man muss sie mit biomedizinischen Methoden behandeln. Ich möchte klarmachen, dass das ein Irrweg ist, dass das letztlich nicht funktioniert.
Und dass viele dieser Mythen von der Marketingabteilung der Pharmaindustrie aufrechterhalten worden sind. Zum Teil nachweislich gegen die wissenschaftliche Evidenz weil sie einfach eine gute Begründung für den Absatz der Medikamente darstellen. Leider sind diese Kampagnen so erfolgreich, dass sich bestimmte Mythen bis heute halten.
Zum Beispiel die Serotonin-Hypothese ist nicht stichhaltiger als die These, dass die Erde eine Scheibe ist. Da ist nicht mehr dran. Das weiß auch jeder, der sich mit der Materie beschäftigt.
Und dennoch hält sich das. Ich möchte die Botschaft vermitteln, dass man nicht warten muss, dass es sogar schlecht ist zu warten, sondern dass man selber etwas tun kann, um aus einem depressiven Zustand herauszukommen. Das sind einfache Rezepte.
Depression hat viel zu tun mit Passivität. Da ist zum Beispiel auch die Vorstellung, ich muss warten, bis meine Depression vorbei ist, weil ich da gar nicht alleine etwas machen kann. Das ist per se schon Teil der Depression, ein solches Denken.
Zu warten, bis man wieder Lust hat, irgendetwas zu tun in einer Depression, führt oft dazu, dass man so lange wartet, bis man schwarz wird. Das ist ein typisches Merkmal, dass man keine Lust mehr hat. Zum Glück muss man nicht Lust haben, um wieder aktiv zu werden, sondern man muss es nur tun.
Dazu gehört aber auch das Verständnis. Dass Aktivität zum Beispiel ein Weg ist, aus der Depression herauszukommen. Und natürlich muss das eigene Denken die eigenen depressiven Grundüberzeugungen infrage stellen.
Wenn man das alleine nicht schafft, und das ist oft sehr schwer, dann gibt es Psychotherapie, ambulante und stationäre therapeutische Angebote, die aber letzten Endes genau das gleiche Ziel haben. Dieses Verständnis für Therapie zu fördern, dieses Verständnis für Depressionen zu fördern, und den Menschen wieder autonom zu machen. So autonom wie möglich.
Dass er wieder in der Lage ist, sein Leben selber zu gestalten.
[Nils Behrens] (1:18:48 - 1:19:33)
Ich finde, ein Punkt, den Sie sehr klar gemacht haben, es ist einfach de facto eine Krankheit, und es ist de facto etwas, wo man sich für professionelle Hilfe holen sollte. Ob sie stationär oder ambulant ist, ist es auf jeden Fall so, dass man sie nicht einfach durch eine Pille beseitigen kann, noch dass man abwarten kann, bis man wieder die Sonne scheint oder einen lustigen Film sieht, und damit es dann bereinigt ist. Dann sage ich ganz herzlichen Dank, Herr Professor.
Vielen Dank für das Gespräch. Für alle, die jetzt tiefer einsteigen möchten in die Materie, den empfehle ich das Buch Depressionen überwinden ohne Antidepressiva. Es ist erschienen im TRIAS Verlag und von dem Autor Prof. Dr. Reinhard Maas, in dem ich jetzt noch einmal ganz herzlich Danke sage.
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (1:19:34 - 1:19:38)
Sehr gerne geschehen. Vielen Dank auch Ihnen für die Anfrage und das Gespräch.
[Nils Behrens] (1:19:42 - 1:19:44)
Haben Sie eigentlich ein Lieblingssupplement, was Sie regelmäßig nehmen?
[Prof. Dr. Reinhard Maß] (1:19:45 - 1:20:15)
Nein. Nein, nein, nein. Ich trinke, dafür sorgt meine Frau jeden Morgen, einen bestimmten Saft.
Ich weiß gar nicht genau, was da drin ist. Der ist aber gut für das allgemeine Befinden, für die Verdauung. Nö.
Normalerweise esse ich gerne, was mir schmeckt. Aber ich kann nicht mehr so viel von all dem essen, was mir schmeckt. Leider, das war früher anders.
[Nils Behrens] (1:20:16 - 1:20:41)
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